Manchmal habe ich das Gefühl, wir (also die Eltern von aktuell noch erziehbaren Kindern) sind die Generation Angst. Chronologisch in der Zeitgeschichte betrachtet vermutlich die Jahrgänge kurz nach der Generation Golf. Ständiger Begleiter: eine latente Verunsicherung. Und die Sorge, irgendetwas falsch zu machen in der Erziehung. Überhaupt… was sollen die anderen denken.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber bei mir fing es schon in der Schwangerschaft an. Kaum schien es sich ein kleiner Zellklumpen bei mir gemütlich gemacht zu haben, bekam ich umgehend und ungefragt sehr viele Ratschläge. Die ich besser befolgen sollte. Sofern ich Risiken minimieren und den Minizellhaufen schützen wollte.

„Sie wollen doch nur das Beste für Ihr Kind, oder?!“

Nehmen wir mal diese ganzen wichtigen Schwangerschaftsvitamine. Die wir zusätzlich zu uns nehmen müssen. Viel hilft viel. Wir wollen ja keine Fehler machen. Und ein Zuviel an Folsäure, Vitamin A bis D oder eine Extraladung Magnesium und Eisen haben ja noch niemandem geschadet. Oder?! Wäre ja auch nicht gar so lukrativ, wenn wir das nicht bräuchten. Am besten einzunehmen in einer optimal auf Sie abgestimmten Kombination beim Apotheker Ihres Vertrauens. Aaaah, Sie kaufen nur im Drogeriemarkt? Weil es dort nur ein Bruchteil kostet? Naja… gut… ich meine, es ist ja Ihr Baby…

Da stehen sie und schwingen mit der Angstkeule…

Wir Mütter wollen schon in der Schwangerschaft alles richtig machen. Hier scheint es allerdings nicht mehr zu genügen, auf Alkohol sowie sonstige Drogen zu verzichten, sich gesund zu ernähren und auf sein Bauchgefühl zu hören.
Und das zieht sich so in der Regel fort. Auch wenn der Minizellhaufen dann bereits in all seiner Zellpracht vor Ihnen liegt, sitzt, krabbelt, steht, bockt oder schreit.

Dabei sind wir in der Erziehung heute doch so bedürfnisorientiert wie nie. Und was wir nicht alles wissen dank Google und insta-vernetzta Müttermafia… Wahnsinn! Jeder von uns könnte eine Serie an Ratgebern veröffentlichen in Sachen perfekter Erziehung.

Wir limitieren bei unseren Kindern vorbildlich Medien- und Zuckerkonsum. Auch das Bisschen ist für die perfekte Mutter von heute immer ein bisschen zu viel. Und wenn doch, dann natürlich heimlich. Und mit schlechtem Gewissen. Was sollen die anderen Mütter denken?

Möglicherweise macht täglicher Sandmannkonsum meine Kinder ja zu unkontrollierbaren egoistischen kleinen Tyrannen, die world-of-warcraft-mäßig mit Schlafsand rumballern? Gruselig!
ALF hat mir früher übrigens das Rülpsen auf Kommando beigebracht. Ich konnte in meinem Leben schon diverse Male damit trumpfen. Ernsthaft!

Früher war nicht alles besser. Ganz sicher nicht. Aber vielleicht war es manchmal ein wenig entspannter…?

Einer kleiner Rückblick in meine Kindheit:

Wir Kinder in den 80ern lutschten als Babys an giftigem Plastikspielzeug. Und an unzähligen Gummibärchen unserer älteren Geschwister.

Wir waren mit den Eltern im Freibad und hatten exakt nur eine Badehose dabei. Keine Wechselhose. Kein Neoprenanzug. Wir nutzten alle dieselbe Sonnencreme aus dem Supermarkt, die noch richtig gut nach Sommer roch. Und sich irgendwie auch verteilen ließ, ohne dass man den restlichen Tag aussah als müsste man sich direkt übergeben. Ich weiß, Klimawandel und so. Und genau deswegen kleistere ich meine Kinder ja ab April auch schön zu sobald ich das Haus verlasse.

Wir sind noch ohne Taucherbrille getaucht. Die ganz Harten sogar ohne die Nase zuzuhalten. Und abends fielen wir mit einem Gemisch aus Clor- und Seewasser in unseren Poren in die Betten. Ungeduscht. Mit all den Giften an uns dran.
Ich liebe Chlorgeruch an meiner Haut noch immer.

Wir sind radgefahren ohne Helm und Inline-Skates ohne Schoner. Ein paar Narben an den Knien erinnern mich heute noch daran. Ich bin oft gefallen, aber ich hatte anscheinend immer Glück. Pflaster drauf (im alt-ehrwürdigen Beige ohne Drache Kokosnuss oder Conni) und gut wars.

Wir haben unsere Milchzähne gut geputzt. Und gelegentlich taten wir so. Manchmal genügte es ja auch schon, ein klein wenig frisch duftende Zahnpasta auf der Zunge vergehen zu lassen. Schon schien der Kindermund frisch und sauber. Während meine Eltern für das fehlende Nachputzen bis zur Oberstufe heute vermutlich massiven Ärger mit der Müttermafia bekämen, loben mich meine Zahnärzte derweil für meine guten und naturgesunden Zähne. Ooookay…

Wir schauten fern. Wir schauten viel fern. Mein Papa hatte ein Fernsehgeschäft. Noch Fragen? Wir begleiteten ihn sehr gern zur Arbeit. Es ist kaum zu glauben, aber ich habe trotzdem einen ganz passablen Schulabschluss. Ich kann lesen. Und ich habe sogar Freunde. In Echt jetzt!

Zum Mittagessen tranken wir süßen oder gelben Sprudel (Zitronen- bzw. Orangenlimonade). Und ich denke nicht, dass ich bis zum Beginn des Beikostalters meines ersten Kindes jemals Kekse mit Dinkel gesehen habe. Gab’s die überhaupt?!
Wir haben uns den Sommer über vorwiegend von Eis und Pommes im Freibad ernährt. Und es gab Zeiten, da waren die Tomaten im Ketchup unser einziges Gemüse. Wir lutschten Cola-Kracher und grüne Schnüre. Und wir liebten Mohrenkopfsemmeln, ohne heute die ArschfD zu wählen.

Ich saß als Dreijährige mit auf dem Surfbrett meines Papas. Und bei meiner Mama mit ausgestreckten Beinen auf dem Gepäckträger. Meine Eltern waren dennoch sozial integriert und sie hatten keine Akte beim städtischen Jugendamt hinsichtlich Kindeswohlgefährdung.

Unsere Mütter brachten uns in den Kindergarten und sie mussten nicht innerhalb 2,75 Minuten wieder vor Ort sein, wenn wir zweimal nach ihnen fragten.

Wir hatten Banden. Wir kletterten auf Bäume getreu der Methode Trial and Error. Und manchmal hatten wir Hunger und Durst, weil wir nie eine Trinkflasche bei uns hatten. Und auch keine Tupperdosen mit frischem Obst und Nüsslein.

Wir machten Klingelputze in der Nachbarschaft und riefen mit der Not-Telefonkarte wild irgendwelche Menschen an bis jegliches Guthaben verbraucht war. Das bekamen wir dann irgendwann zu spüren, wenn der Musikunterricht ausfiel und man die Stunde dann eben warten musste.

Wir waren zwei Wochen im Zeltlager. Und am Wochenende zwischendrin durften die Eltern uns besuchen, wenn sie denn wollten. Ansonsten haben sie nichts von uns gehört. Kein Lebenszeichen bedeutete: Kind lebt. Wir hatten sogar noch männliche Betreuer, die mit einer Horde zehnjähriger Mädels gemeinsam in einem Zelt geschlafen haben. Verrückt.

Wir durften ohne Handy oder GPS-Uhr zu unseren Freunden radeln. Dabei noch heimlich einen Umweg machen, um den zwei Jahre älteren Martin aus der 6d beim Fußballtraining zu stalken.

Wenn wir was verbockt hatten, dann war das unsere Schuld. Und nicht unweigerlich die unserer Mütter.

Ein bisschen anders ist es heute schon, oder? Und vor was habe ich eigentlich Angst?

Habe ich Angst, dass mein Kind fällt, wenn es bei uns im Hinterhof nur mal kurz fünf Minuten ohne Schutzkleidung radelt? Und dabei einen Schädelbasisbruch erleidet? Oder habe ich Angst, dass die Übermutti von gegenüber just in dem Moment rauskommt und Zeuge meiner mütterlichen Vernachlässigung wird? Dies vielleicht sogar noch fotografisch festhält und mich in der „Wir-machens-besser“-WhatsApp-Gruppe bloßstellt?

Habe ich Angst, dass mein Kind im Kindergarten ein Trauma erleidet, wenn es dort mit Kopfweh eine halbe Stunde auf dem Sofa liegen muss? Oder fürchte ich mich eher vor den Erziehern? Oder vor den hochgezogenen Augenbrauen der Mutter aus der Igel-Gruppe, wenn ich erst 30 Minuten später nach Bekanntgabe des Notfalls erscheine? Und dann sogar noch in Sport- und nicht in (halbwegs geduldeter) Arbeitskleidung?

Habe ich Angst, dass meinem Kind nachmittags auf dem Spielplatz nach einem akuten Befall von Karius und Baktus der Zahn rausfault noch während ich ihm zum Äpfelchen auch seine zuckerreichen Weizenlieblingskekse reiche? Oder eher vor der veganen Supermami, die mich mit ihren verachtend kalorienarmen Blicken straft?

Ich fühle mich gut, wenn ich etwas tue hinter dem ich stehe. Meine Kinder tragen im Straßenverkehr natürlich Helme. Und das ist auch gut so. Wir wohnen in der Stadt, es sind deutlich mehr Autos unterwegs als früher und es macht für mich definitiv Sinn, hier Risiken zu umgehen. Ich bekomme ohnehin schon eine Panikattacke wenn einer von ihnen auch nur sein Fahrrad, Roller oder Laufrad ungeschützt schiebt. Und ja, ich versuche auch mehr oder (eher) weniger erfolgreich Vitamine in meine Kinder zu manövrieren.

Aber es gibt so viele andere Situationen in meinem Alltag, in denen ich aus einer gemeinschaftlichen Angst heraus handle und nicht aus meiner ureigenen. Die Kollektivangst, die mitunter tatsächlich schon auf meine Kinder abfärbt. Neulich war ich mit meiner Großen schwimmen. Und ich hatte nur eine Badehose für sie im Gepäck. Sie wies mich mehrere Male darauf hin, dass ich doch das nächste Mal bitte wieder an eine Wechselhose denken sollte. Nicht, dass sie noch eine Blasenentzündung bekäme.

Aaaaaaah!

Ich hatte früher natürlich auch manchmal Angst. Angst vor Monster in meinem Zimmer. Angst, dass die Drohung vielleicht doch wahr werden könnte und ich viereckige Augen bekäme nach intensivem Fernsehkonsum. Oder dass meine Augen schielend blieben, wenn gleichzeitig die Uhr bei meinen Großeltern zur vollen Stunde schlug.

Angst, dass ich vom Fahrrad falle, hatte ich nie. Obwohl es mir wirklich oft passiert ist. Auch nicht, dass meine Zähne rausfallen oder ich adipös werden würde. Ich hatte keine Sorge vor einer Blasenentzündung und auch nicht zu verhungern, wenn meine Mama mir draußen beim Toben zwei Stunden lang keine Nahrung verabreichte.
Manchmal hatte ich Angst vor Steffi. Sie wohnte ein paar Häuser weiter in unserem Dorf. Und sie war wirklich groß, breit und manchmal böse zu mir. Aber dank ihr habe ich gelernt, schnell zu rennen, wenn’s drauf ankommt.

Ängste haben mitunter sicher auch ihre Berechtigung. Nur manchmal sollten wir vielleicht genauer in uns reinhören und uns fragen, woher diese Befüchtungen kommen. Und wer da spricht. Will uns die Pharmaindustrie vielleicht gerade auch zu gern dieses neue tolle sauteure Produkt verkaufen? Es ist ja nur zum Wohle des Kindes. Wir wollen doch kein Risiko eingehen.
Versucht die Supermom von nebenan vielleicht ihr eigenes Ego zu pushen, indem sie mir mit ihren Blicken den Rabenmutterstempel aufdrückt?
Oder spricht da mein Bauch?

Eins habe ich mittlerweile verstanden: Wenn der Bauch spricht, dann hör ihm lieber gut zu, was er sagt. Denn der hat meistens recht.
Und bei all den anderen Themen: Manchmal hilft ein etwas entspannterer Umgang mit der einen oder anderen Regel auch. Vielleicht spricht da gerade aber auch nur die sommerferiengeplagtemachende Dreifachmama in mir, die schon seit zwei Wochen alle (VIELE!) Kinder daheim hat. Wer weiß das schon.

So. Jetzt Sie. Ich suche Gleichgesinnte!