Dreimal im Jahr wird es bei uns so richtig sentimental. Ich korrigiere: bei mir. Da stelle ich dem Mann dann so Fragen, wie „Hach, weißt du noch, was wir jetzt genau vor XYZ Jahren gemacht haben?“ Er dann immer so: „Äh nö. Essen? Schlafen? Dschungelcamp?“. Ich verdrehe die Augen, höre nur noch romantische Lieder, schreibe emotionsgeladene Nachrichten an Hebammen und gebäre jedes Jahr aufs Neue drei wundervolle Kinder. Auf zwölf Monate gerechnet schon eine ziemlich starke Leistung.

Obacht, heute ist es also wieder so weit. Mutti wird sentimental. Denn morgen wirst du, mein Jüngster, zwei Jahre alt. Eins ist sicher, die letzten 24 Monate waren alles außer langweilig. Du unerschrockenener, du heiterer, du strahlender, du wilder, furchtloser Junge.

Good Day stand da auf deinem viel zu großen Shirt in Größe 44, in dem ich dich nach drei Wochen Intensivstation endlich mit nach Hause nehmen durfte. Du hast uns eindrucksvoll gezeigt, wieviel Stärke in 1800 Gramm Menschlein stecken können.

Das Dritte läuft nur mit, haben sie gesagt. So ganz kann ich das nicht bestätigen. Denn von Anfang an hast du uns gezeigt, dass du keinesfalls vorhast, auf vorab geebneten Wegen einfach so mitzulaufen.
Im Frühjahr vor knapp drei Jahren schwitzten wir – neben einer zweijährigen Trotzphase und einer fünfjährigen Vorschulpubertät – noch über Erziehungsratgeber. Und während wir uns bis dato erst ganz am Anfang unserer Entscheidungsfindung befanden, ob drittes Kind ja oder nein, hattest du dich bereits unter und direkt in mein Herz geschlichen. Und dort hast du mich von Anfang an eindrucksvoll gelehrt, auf mein Bauchgefühl zu hören und ihm zu vertrauen. Ich habe im übrigen auch ein Vermögen an Schwangerschaftstests ausgegeben. Alle immer wieder negativ. Der Mann meinte irgendwann vorsichtig: „Willst du denn nicht einfach mal aufhören zu testen, ich frag‘ nur…“.
Nee, dachte ich, ich war ja schwanger. Und irgendwann raffte das sogar der Test.

Mit dir war schon immer alles besonders.
Besonders schön, weil feststand, dass dies wohl der letzte Kugelbauch sein sollte. Aber manchmal auch besonders verwirrend und turbulent.
Während der gesamten Schwangerschaft musste ich nahezu wöchentlich zur Kontrolle, weil du irgendwie nicht so wachsen wolltest wie die Ärzte das gerne gehabt hätten. Viel zu klein seist du, nicht annähernd der Schwangerschaftswoche entsprechend, die Versorgung sei nicht optimal. So ging das weiter Woche für Woche. Immer neue Hiobsbotschaften. Immer wieder versuchten mir die Ärzte ungefragt eine Art von Trost zu spenden. Erklärten mir, was für tolle Möglichkeiten die Medizin doch heute habe. Ermutigten mich, dass wir das bis zur 30. Woche schon gemeinsam packen würden. Mit der Lungenreifespritze sei alles weitere kein Problem.
Ich sah die gynäkologische Siegesfaust. „Frau Rösler, gemeinsam schaffen wir das!“

Und ich? Ich hörte zu, spürte in mich hinein und brütete weiter. Nahm all die Informationen zur Kenntnis, googelte ein bisschen hin und her, beriet mich mit der weltbesten Hebamme und wusste insgeheim doch immer: „Alles ist gut“. Es gab keinen einzigen Moment, in dem ich wirklich Angst um dich hatte.

Oft versuchten andere jedoch dieses gute Bauchgefühl zu kippen. Insbesondere im letzten Trimester, wo wir zum Teil täglich ins Krankenhaus zitiert wurden. „Bitte bringen Sie Ihre Kliniktasche mit, gegegebenfalls muss die Geburt eingeleitet werden.“ Und immer wieder trafen wir auf ratlose Gesichter. Okay, viel zu klein – das konnte sogar ich als Laie diesen ganzen Kurven entnehmen. Aber eben super fit. Das merkten auch die Ärzte anhand ihrer schlauen Werte. Der Assistenzarzt zog dann den Oberarzt zurate. Der wiederum holte die Meinung des leitenden Oberarztes ein. Und dann konnte man ja immer noch den Chefarzt anrufen. So ging das bestimmt drölfunddreißig mal.

Keiner fragte mich.
Ab und an warf ich laienhaft leise ein, dass ich das Gefühl hätte, dem kleinen Menschen unter meinem Herzen ginge es sehr gut. „Ja, aber wir wollen doch kein Risiko eingehen, oder?“
Nee, wollen wir nicht. Gab ich auch zu.

Vier Wochen vor Termin wurde dann letzten Endes eingeleitet. Zur Sicherheit. Nicht, dass wir irgendwann in eine akute Unterversorgung kämen. Möglicherweise. Vielleicht.
Für die Ärzte eine sichere rationale Entscheidung. Ich dagegen haderte lange, stimmte aber letztendlich zu. Auch ich verlor langsam die Kraft, die Verantwortung zu übernehmen. Wenn du täglich gesagt bekommst, dein Kind sei möglicherweise unterversorgt, verpufft auch das beste Bauchgefühl irgendwann.
Ich mache den Göttern in Weiß keinen direkten Vorwurf für ihr Handeln. Ich glaube, sie waren schlichtweg ratlos. Weil du, mein liebes Kind, dich von Anfang an in kein bestehendes Schema reinpressen lassen wolltest. Einfach besonders. Auch mir mache ich keinen Vorwurf, dass ich nicht weiterhin auf meine innere Stimme gehört habe. Auch wenn es Zeiten gab, in denen ich das unaufhaltsam tat. Aber letzten Endes wissen wir nicht, was passiert wäre, wenn. Oder eben wenn nicht. Wärst du vier bis sechs Wochen später einfach ein sehr zierliches Baby gewesen oder hätte es wirklich eine Notsituation gegeben?
Hätte hätte Schnullerkette. Ich versuche, Frieden damit zu schließen.

Tja, und morgen ist es genau zwei Jahre her, dass du – unser Dritter im Bunde – spontan auf die Welt kamst. Sofern man von spontan sprechen kann nach stundenlangen Einleitungswehen (ich plädiere hiermit für eine Änderung der Begrifflichkeiten).
Und was soll ich sagen… noch bevor du ganz geschlüpft warst, hast du voller Entrüstung geschrien wie ein Großer. Das hatte ich bisher auch noch nicht erlebt. Und ich weiß noch, wie ich zwischen all den Presswehen unter dem schmerzverzerrten Gesicht irgendwie fast schon schmunzeln musste. Okay, fast. Wollen wir es mal nicht übertreiben.

Du durftest kurz zu mir, denn dir ging es sichtlich gut. Leider musstest du aber aufgrund des sehr geringen Gewichts dennoch auf die Neonatologie verlegt werden. Das wusste ich im Vorfeld, schlimm war es trotzdem. Eine Stunde später saß ich dort neben dir. Gefühlt allerdings noch irgendwo zwischen Kreißsaal und neugeborener Mama.

Glücklicherweise trafen wir dort auf einen tollen Kinderarzt. Einer, der sich Zeit nahm für meinen Mann und mich, uns mit Worten umarmte und Mut machte. „Ihr Sohn ist so fit, der ist in Kürze bei Ihnen.“ Das tat unglaublich gut. Obgleich die Realität dann leider anders aussah, denn es folgten noch drei weitere Wochen Klinik. Besagter Arzt kam am Tag der Entlassung zu mir und bat um Entschuldigung. Er habe das falsch eingeschätzt und es täte ihm unsagbar leid, mir falsche Hoffnungen gemacht zu haben. Ich freute mich über seine Reaktion und heulte wie ein Schlosshund. Böse war ich ihm nicht im geringsten.
Natürlich war es enttäuschend und diese drei Wochen die absolute Hölle. Den Jüngsten auf der Intensiv, die beiden großen Kleinen daheim. Aber vermutlich war er der einzige (außer uns), der die Lage und auch dich richtig eingeschätzt hatte, du kleiner Kämpfer.
Denn warum musstest du bleiben? Weil du dich geweigert hast, aktiv an den streng getakteten Versorgungsrunden teilzunehmen, die leider auf Intensivstationen vorherrschen. Hier wird entweder alle drei oder alle vier Stunden gefüttert. Wer die Zeiten in deiner Gewichtsklasse faul verschläft, wird per Magensonde ernährt. Puh, ich übe mich noch immer in Verständnis für diese starre Routine. Es ist verdammt schwer, aber im Hinblick auf so viele krassere Fälle dort, scheint es derzeit einfach die einzige Lösung zu sein, allen gerecht zu werden. Zu Beginn habe ich dich noch oft gestillt. Aber natürlich trankst du nie die vorab berechneten Mengen, die du – zu jeder Versorgungsrunde – hättest trinken sollen. Ab und an entgegnete ich, dass ich meine beiden anderen Kindern auch immer nach Bedarf gestillt habe und dass dies am Anfang oft alle 30 Minuten war. Bei manchen Schwestern sah ich warmes Verständnis in den Augen und eine stille Entschuldigung für diese starre Routine. Ein paar wenige reagierten unfreundlich und von oben herab. Die Wut darüber schmerzt noch heute.
So stillte ich dich also ab und an heimlich beim Känguruhen und pumpte nebenher wochenlang literweise Milch ab, was du von den Schwestern dann schließlich per Magensonde verabreicht bekommen hast. Aber auch da fällten wir die Entscheidung ohne dich. Du zogst dir nämlich regelmäßig den Schlauch raus. „Das passiert schon mal“, sagten sie mir. Bei dir aber sehr häufig. Und mir war klar – du willst einfach nur nach Hause.

Irgendwie hielten wir alle diese furchtbaren Wochen durch. Meine Mama kam immer wieder angereist und unsere Freunde halfen, wo sie nur konnten. Und schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, zeigte die Waage in der Klinik dann die so lange erhofften 2000 Gramm an. Kein Gramm mehr, keins weniger. Und an diesem GOOD DAY durftest du nach längerer Verhandlung mit dem Chefarzt endlich nach Hause. Ermahnende Blicke galten mir. „Schaffen Sie es denn überhaupt, ihm gerecht zu werden mit den zwei anderen Kindern?“ und „Stillen Sie ihn aber nur selten, er ist noch nicht stark genug“.
Mir war alles egal, notfalls würde ich dir eben das Fläschchen geben. Hauptsache wir waren alle endlich zusammen und daheim.
Zu Hause angekommen, fütterte ich dich noch ein letztes Mal brav mit der Flasche und ab da haben wir gestillt. Ich tat mal wieder das, was mir mein Bauch sagte entgegen aller Empfehlungen. Und es war, als ob wir nie was anderes gemacht hätten.

Du kleiner, zäher Bursche. Dich wirft so schnell gar nichts um.
Auch als wir vier Wochen später schon wieder ins Krankenhaus fuhren, weil du aufgrund eines Leistenbruchs operiert werden musstest. Ich weiß noch, wie ich dich Minimenschlein in diesem Bettchen zu der OP-Schleuse gefahren habe. Es war unglaublich hart, aber ich dachte mir erstaunlicherweise: Zum Glück liegst du gerade hier und keins deiner großen Geschwister. Denn wenn einer das hier rockt, dann DU!

Auch heute trotzt du nach wie vor allen Kurven und Normen. Und sorgst auch weiterhin für die eine oder andere Ratlosigkeit bei den „Spezialisten“. Du wächst gut und stetig, nur eben weiterhin in deinem eigenen Tempo. Das macht dich sehr besonders und in den Augen fremder Leute manchmal zu einem hochbegabten Wunderkind. 😉 Du verzauberst alle mit deinem Charme und deinem unerschütterlich liebenswerten Wesen. Viele Male saßen wir fünf schon beisammen, vier davon mit mürrischem Blick und jeder schimpfte mit dem anderen. Aber da sitzt immer einer mit dabei, der uns zum Lachen bringt. Der seine kleinen Ärmchen hochreißt und plötzlich „Paaaaarty“ ruft. Einer, der in dem ganzen Wahnsinn die Leichtigkeit behält. Und einer, der uns lehrt, was wichtig ist im Leben. Mein liebes Kind, du machst die Welt für die Menschen um dich herum ein kleines bisschen besser.

Ich nenne dich auch immer wieder „unser pädagogisches Pilotprojekt“. Denn während ich mich bei deinen Geschwistern in der Erziehung noch sehr stark an gesellschaftliche Regeln, manchmal hilflos an gute Ratschläge und hervorragendes Benehmen klammerte, fehlt mir bei dir, dem dritten Kind, manchmal schlichtweg die Kraft. Auch hier lehrst du mich, auf mein Bauchgefühl zu hören. Du bringst mir täglich bei, Dinge in Frage zu stellen, die ich so mache. Weil man die ja schließlich so macht.
Und mal ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass du mit siebzehn Jahren nur einschlafen kannst, wenn du mit deinen rechten Fingerchen meinen linken Unterarm knibbelst. Ich kann mir auch nicht so recht vorstellen, dass du dann nachts lieber neben deiner alten Mutter liegst als neben Lena aus der 12d. Oder ich dich noch in der Manduca zur Schule bringe. Schwer auch die Vorstellung, dass du mit 14 deinen Schlabberschlonzekeks noch immer an unser Sofa und die Wände schmieren wirst, obwohl alle anderen (auch deine wohlerzogenen Geschwister, hüstel hüstel) mit uns am Tisch sitzen und ordentlich essen. Die haben das ja schließlich gelernt. 😉

Fakt ist, ich habe dir nicht beigebracht, sofort zu deiner großen Schwester zu gehen und sie liebevoll zu drücken, wenn sie sich weh getan hat. Du machst das einfach. Ich habe dir nicht beigebracht, deinen großen Bruder zu trösten, wenn er weint. Du bringst ihm ganz selbstverständlich sein geliebtes Stoffschwein. Mein wundervolles Kind, du faszinierst mich jeden Tag aufs Neue. Du hast mich stärker gemacht und um Welten mutiger. Der Weisere von uns bist definitiv du.
Du schaffst ein völlig neues Selbstveständnis von Familie und Zusammenleben. Und es ist zum Heulen schön, wenn ich sehe, wie du da wie selbstverständlich am Kopfende unseres Tisches sitzt, um dich herum vier Menschen, die dich einfach nur vergöttern.

Happy Birthday, mein größter Kleiner! Du hast uns einfach noch gefehlt.

P.S.: Und bitte lassen Sie mich noch für einen kurzen Moment in dieser „Pre Terrible Two“-Blase. Wo Sie sich als Mutter auf die Schulter klopfen und denken, hey, endlich mal was so verdammt richtig gemacht. Die anderen sollten sich mal ein Beispiel an mir nehmen. Ähm ja. Habe diesen Hochmut schon zweimal hinter mir und nicht so wirklich daraus gelernt. 😉 Aber egal. Jetzt gerade ist es irgendwie gut. Und wild. Und wundervoll.